Die falsche Größe in Aufstellungen – warum wir manchmal größer wirken, als wir sind
In systemischen und integralen Aufstellungen begegnet uns immer wieder das Phänomen der falschen Größe. Gemeint ist damit, dass ein Kind innerlich in eine Position wächst, die eigentlich den Eltern oder anderen Vorfahren zusteht. Diese zu große Rolle lebt man unbewusst häufig als Erwachsener weiter.
Dadurch geraten die systemischen Ordnungsprinzipien in Schieflage: Wer klein sein dürfte/müsste, wird zu groß – und bleibt doch innerlich unversorgt. Die Intervention der Rückgabe der falschen Größe gehört zu einer sehr häufigen und heilenden Bewegung in der Aufstellungsarbeit.

Mögliche Ursachen für die falsche Größe
1. Parentifizierung – wenn Kinder Verantwortung tragen
Manchmal übernehmen Kinder Verantwortung für ihre Eltern: Sie trösten, tragen Lasten oder fühlen sich für deren Glück verantwortlich. Es drehen sich also die Rollen. Als Kinder glauben wir häufig unbewusst, dass wir unsere Eltern retten könnten. Das Ziel ist klar: „Gerettete Eltern“ – und damit Eltern, die für uns als Kind da sein können. Doch der Hut, den wir uns damit als Kinder aufsetzen, dient maximal einer stabil-ungesunden Eltern-Kind-Beziehung. Gerettet wird dabei niemand.
Diese Schieflage leben viele Klienten unbewusst weiter in unterschiedlichen Kontexten. Wenn bei Aufstellungen dann ein Ahne zum Vorschein kommt, begegnen mir oft diese Thematiken. Der Klient ist gegenüber seinen Ahnen immer der Kleine – auch wenn er jetzt schon erwachsen ist. Die falsche, unbewusst aufoktroyierte Größe verhindert Verbindung und das Gehen in die eigene Größe. Wenn in einer Aufstellung gegenüber dem Ahnen nicht gesagt werden kann: „Ich bin der Kleine und Du bist der Große“, dann ist dies der deutlichste Hinweis auf die falsche Größe – auch wenn sie sich mir als Aufstellungsleiterin häufig schon vorher zeigt.
2. Verstrickung und Projektion
In anderen Fällen identifizieren sich Kinder unbewusst mit Schicksalen aus früheren Generationen. Die Geschichte wird transgenerational weitergetragen, und auch dieser Verstrickungsteil lässt einen häufig zu groß werden.
Parallel projizieren die Älteren in das Kind wiederum ein unverarbeitetes Muster: ein abgelehntes oder schwieriges Familienmitglied, eine verlorene Liebe oder andere ungelöste Themen. Egal, worum es sich handelt – die Projektion verhindert, das Kind wirklich zu sehen. Da man jemand anderen Erwachsenen darin sieht, wird das Kind zu groß gemacht. Und alle leiden darunter.
Die Projektion zu lösen, ist ein wichtiges Ziel in meiner Aufstellungsarbeit. Noch deutlicher wirkt eine Verstrickung mit einem Ahnen in das aktuelle Leben hinein: So war man aus Aufstellungssicht nie wirklich man selbst, sondern hat quasi das Leben eines anderen geführt. Nach vorherigen Interventionen ist auch hier häufig die Rückgabe der falschen Größe zentral.
3. Kognitive Überlegenheit – Spiral-Dynamics-Perspektive
Ein subtiler, oft übersehener Grund zeigt sich, wenn Kinder kognitiv oder entwicklungspsychologisch weiter sind als ihre Eltern oder Ahnen.
Dass wir heute als Erwachsene mit großer Wahrscheinlichkeit in unserer Kognition „weiter“ sind als unsere Vorfahren, ist natürlich auch den positiven Möglichkeiten geschuldet, die wir heute haben. Diese Möglichkeiten sind andere, als unsere Vorfahren sie je hatten.
Ein Beispiel: Die Eltern leben stark in einer blauen Werteordnung (Pflicht, Ordnung, religiöse Dogmen). Blau heißt diese Ebene in Spiral Dynamics. Parallel kann man dies mit dem Modell StAges verbinden: Die Eltern bewegen sich etwa auf der Ebene der zweiten Wahrnehmungsperspektive. Mein Klient mit seinem Anliegen ist dagegen bereits grün orientiert (Konstruktbewusstsein, Pluralität, Dialog, innerer Gefühlsreichtum). Im Modell StAges entspricht das mindestens der integrierten dritten, oft schon der vierten Wahrnehmungsperspektive.
Damit kann er die Welt weitaus komplexer wahrnehmen und hat einen größeren Lösungsraum als seine Eltern. Diese kognitive Fähigkeit lässt einen unbewusst arrogant auf die Eltern herabblicken. Auch wenn dies intellektuell nachvollziehbar ist, führt es innerlich dazu, dass das Kind sich „größer“ oder „weiter“ fühlt als die Eltern.
In integralen Aufstellungen wird sichtbar: Diese Überheblichkeit ist ebenfalls eine Form der falschen Größe – auch wenn sie geistig begründet scheint. Auch wenn wir als Nachkommen möglicherweise intellektuell weiter sind, darf das systemische Prinzip, dass die Ahnen die Großen sind und bleiben, nicht ins Ungleichgewicht geraten.
4. Gemischte Dynamiken
Oft wirken diese Faktoren nicht isoliert, sondern in Kombination. Ein Kind kann gleichzeitig parentifiziert sein und kognitiv über die Eltern hinauswachsen. Die falsche Größe ist also selten monokausal, sondern Ausdruck mehrerer verknüpfter Ursachen.
Was durch die Rückgabe geheilt wird
Wenn in einer Aufstellung die falsche Größe zurückgegeben wird, geschieht etwas Wesentliches im System:
Die systemische Ordnung wird wiederhergestellt:
Die Eltern bleiben die Großen, die Kinder dürfen die Kleinen sein.
Die Lasten gehen zurück: Was nicht zum eigenen Leben gehört, darf bei den Ahnen bleiben.
Anerkennung statt Forderung: Wir erkennen an, dass wir von den Großen nichts verlangen dürfen. Wir kennen das Schicksal unserer Eltern nie zur Gänze. Wir können es nicht beurteilen, nur respektieren.
Diese Haltung bringt eine spürbare Entlastung und öffnet Raum für eigene Lebenskraft.
Rückgabe heißt nicht: alles gutheißen
Viele Klienten ringen an diesem Punkt. Oder ich erkläre meinen Klienten im Nachhinein das Prinzip der falschen Größe, wenn sie diesen Aspekt durch meine Arbeit noch nicht kannten.
Ein Klient fragte, ob er durch die Rückgabe seiner falschen Größe in der Aufstellung bei einer realen Begegnung mit seinen Eltern wieder klein und kindlich werden müsse. Oder ob er alles akzeptieren solle, was war – auch Verletzendes.
Hier ist die Differenzierung wichtig:
Akzeptanz heißt nicht Gutheißen.
Akzeptanz bedeutet: „Ja, das war so. Ja, manches heiße ich nicht für gut. Und ja, ich stehe dank meiner Eltern heute hier – und deswegen lege ich meine falsche Größe an ihre Füße zurück.“
Dieser Schritt ist eine Meta-Akzeptanz: ein Ja zur Realität, nicht zur Bewertung.
Rückgabe der falschen Größe und Akzeptanz – ein untrennbares Paar
Die Intervention der Rückgabe wird wirksam, wenn sie mit innerer Akzeptanz verbunden ist. Nur dann gelingt es, nicht in kindlicher Ohnmacht zu verharren, sondern erwachsen Ja zu sagen: „Ich nehme meinen Platz als Kind ein, weil das der einzige Platz ist, von dem aus ich meine volle Kraft leben kann.“
So wird die richtige Größe spürbar:
- Die Großen bleiben die Großen,
- die Kleinen dürfen klein sein,
- und jeder in der Ahnenreihe bekommt Respekt für sein Schicksal.
- Und es ist in der Aufstellung nach Rückgaben sämtlicher Themen, der Anerkennung der Ordnung und gegebenenfalls auch des Schicksals der Ahnen körperlich spürbar, wie sich das gesamte System beruhigt, nachgenährt wird und für die eigene Realität und Wirkkraft positive Rückendeckung schenken kann.
Fazit
Die Rückgabe der falschen Größe ist eine der zentralen Interventionen in systemisch-integralen Aufstellungen. Sie konfrontiert uns mit Parentifizierung, Verstrickung und kognitiver Überheblichkeit – und lädt ein, in die eigene passende Größe zurückzufinden.
Für viele ist dies ein Prozess, der Zeit und Begleitung braucht. Doch genau darin liegt die heilsame Kraft von Aufstellungsarbeit und auch der Ausbildung zum Aufstellungsleiter: Wir lernen, Ordnungen zu erkennen, falsche Größen zurückzugeben und die Kraft der richtigen Größe ins Leben zu nehmen.
Unabhängig von Aufstellungen wissen wir manchmal nicht, ob in der Beziehung zu unseren Eltern Verstrickungen oder Projektionen vorliegen. Lausche in Dich hinein: Ertappst Du Dich manchmal, dass Du Dich über Deine Eltern erhebst oder denkst: „Mein Vater müsste endlich mal seine Themen anschauen…“?
Dann wäre das ein Indiz für die systemisch falsche Größe. Vielleicht hilft Dir dann der innere Gedanke:
„Auch wenn ich jetzt schon groß und erwachsen bin – ich kenne Deine ganze Geschichte nicht. Ich kenne sie nur aus dem Blickwinkel des Kindes. Ich kann nicht alles wissen. Dank Dir gibt es mich. Und deswegen wirst Du mir gegenüber immer der Große sein und ich Dir gegenüber der Kleine.“
Schau mal, was in Dir passiert, wenn Du Dich dieser Sichtweise öffnest.
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